Im Bergell lebt eine der wichtigsten Künstlerinnen der Gegenwart – Miriam Cahn. Geboren und aufgewachsen in Basel, hat sie sich zunächst in Maloja ein kleines Atelier eingerichtet. Seit 2016 bewohnt sie in Stampa ganzjährig ein grosses Atelierhaus, gestaltet vom einheimischen Architekten Armando Ruinelli. Es liegt in der Gewerbezone und schaut von der Strasse aus wie ein Betonbunker. Cahn, das wird an dieser Architektur klar, versteht ihr Schaffen als Produktion, ohne Schnörkel, das Raum zur Entfaltung braucht.
Nun stellt sie das erste Mal in einer Einzelausstellung in ihrer neuen Heimat aus, wenige Meter von ihrem Atelier entfernt, im Palazzo Castelmur, einem Zuckerbäckerpalast, errichtet von einem Arbeitsmigranten, dem Baron Giovanni von Castelmur (1800-1871), der in Stampa geboren wurde, mit einer Konditorei in Nizza reich wurde und ins Bergell zurückkehrte. Hier kaufte er um 1850 ein grösseres Haus und wandelte es in einen Palazzo im venezianisch-lombardischen Stil um.
«Cahn meets Palazzo» könnte die Schau also heissen, denn es ist frappierend, wie sich zwischen Werk und Ausstellungsraum ein Spannungsfeld eröffnet. Zunächst verblüfft das Zusammenspiel der reich geschmückten Innenräume mit ihren Holzpanelen, Spiegeln, Bildern, Trompe-l’œil-Malereien mit dem nüchternen, aber trotzdem farbstarken Leinwänden von Cahn. Täuschungen, Illusionen, schreibt Cahn, prägen die Gegenwart, in der jeder und jede seine und ihre Idealbildchen in den «Sozialen Medien» veröffentlicht, genau so, wie die Castelmur ihre «Menschdarstellung» erfanden. Cahn jedoch arbeitet gegen die Illusion, in einer Art vereinfachendem Hyperrealismus, der die Essenz der Gewalt unserer Gesellschaft bebildert. Menschen als Flüchtlinge. Menschen als nackte Körper und gebärende Leibe, ausgesetzt und verwundbar.
Es wirkt ein wenig, als hätten sich die Personen auf den historischen Bildern ausgezogen und bevölkerten nun als neue Heimatlose den Palazzo. Intimität ersetzt Repräsentation; Verletzbarkeit, Leiblichkeit und Weiblichkeit widerspricht der Ausstellung von Macht, Männlichkeit und Herrschaft.
Aber es sind auch Cahns eigene Körper, die vom Bunker-Atelier nun in den Palazzo ziehen und sich den Blicken preisgeben. Der Palazzo war immer auch Wohnhaus, bis heute kann man hier entdecken, wie reiche Menschen im 19. Jahrhundert lebten. Cahn ergänzt diesen Blick ins Intime, das wird in diesem Austellungsraum deutlicher als in einem grossflächigen Museum aus Beton (wie etwa im Kunsthaus Bregenz, wo Cahn 2019 präsent war). So wird ein Schlagwort der zweiten Frauenbewegung in den 1970er Jahren – «das Private ist politisch!» regelrecht sichtbar.
Das zeigt sich vor allem an den Frauenkörpern, die einerseits unserem Blick ausgesetzt sind, anderseits aber jeden Voyeurismus unterlaufen, weil sie Betrachter und Betrachterin involvieren. So auch ein Bild ohne Titel, das die Pose von Gustave Courbets «L’origine du monde» aufnimmt, das Modell aber mit einem rudimentären Gesicht und einem Blick zurück ausstattet. Zudem greift sich die Frau selbst tief in die Vagina, das versperrt Einblicke. Die Pose hat etwas Selbstreferenzielles und Gewaltsames zugleich, etwas Herausfordernd-Aggressives.
FREMD das fremde STRANIERITÀ hat Cahn ihre Ausstellung genannt, das ist Programm und Anliegen. Es geht um heutige und historische Migrationen, um Menschen, die flüchten müssen, wie auch die Familie von Cahn 1933 vor den Nazis aus Deutschland floh.
Migrant*innen werden dort, wo sie ankommen, als Fremde wahrgenommen. Warum eigentlich? «menschen sind mir sowieso fremd seinen sie mir nah oder fern. wieso also sollen mir fremde fremder sein, da mir menschen sowieso fremd sind?», schreibt Cahn.
Das Fremdsein wirft aber noch einen anderen Aspekt auf: den des Sich-Selber-Fremd-Seins, des Entfremdet-Seins. Diese eigene Andersheit tritt in den Bildern von Cahn auf und wir als Betrachter*innen stehen uns beim Anblick selbst fremd gegenüber. Diese Selbstreflexion zu verstehen – als regelrechte Selbstspiegelung –, lädt uns die Malerin ein.
Wir sind nicht nur alle Migranten und Migrantinnen, wir sind uns auch alle selber fremd. Diese Erkenntnis hat Julia Kristeva einmal sehr gut in Worte gepackt: «Wenn wir unsere Fremdheit erkennen, werden wir draussen weder unter ihr leiden noch sie geniessen. Das Fremde ist in mir, also sind wir alle Fremde. Wenn ich ein Fremder ist, gibt es keine Fremden.»
Miriam Cahn, FREMD das fremde STRANIERITÀ. Ausstellung im Palazzo Castelmur in Stampa, Bregaglia. Noch bis 20. Oktober 2021. Weitere Informationen auch zu den Veranstaltungen auf www.fremddasfremde.eu. Zur Ausstellung ist ein Buch unter gleichem Titel entstanden, die Zitate von Miriam Cahn sind daraus entnommen.
Wer sich Miriam Cahn weiter nähern möchte, dem sei der sehr schöne Dokfilm (unter dem etwas blöden Titel) «Das Superjahr der Schweizer Künstlerin Miriam Cahn» von Nino Gadient in der Mediathek des Schweizer Fernsehens empfohlen.
Alle Fotos der Werke von Miriam Cahn in diesem Blogpost mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin. © Veronika Rall. Das Zitat von Julia Kristeva stammt aus dem Buch «Fremde sind wir uns selbst» (Frankfurt, Suhrkamp, 1990, S. 209).