Ansichten einer Reisenden

Hors saison

Es gibt eine Zeit, die existiert nicht. So wenig jedenfalls, dass es im Deutschen kein Wort dafür gibt – hors saison, die Zeit «ausserhalb der Saison» oder die «keiner Saison». Im Englischen spricht man von einer «dead season» wie auch im Italienischen: «stagione morta» – die tote Zeit.

Aber: Warum sie überhaupt benennen und beschreiben? Es ist offenbar eine Unzeit, die es nur in Gegenden gibt, die hauptsächlich vom Tourismus leben. In der Schweiz sind das insbesondere die Bergregionen. Hier richtet sich alles nach den Gästen, die mehr oder minder zahlreich auftauchen. Es gibt die Haupt- und die Nebensaison, die Winter- und Sommersaison, die Ski- und die Wandersaison. Und dann eben noch die Zeit dazwischen.

Für den Touristiker und die Touristin ist es die Zeit, die nicht zählt. Die Hotels haben genauso geschlossen wie die Restaurants; Besitzer und Personal sind selbst im Urlaub. Die Infrastruktur liegt brach – es fahren keine Gondeln, der Busverkehr ist reduziert, Ausstellungen haben geschlossen. Alles, was touristische Regionen aufbieten, um Besucher und Besucherinnen anzuziehen, findet schlicht nicht statt. Das heisst auch, dass die Wirtschaftsleistung in dieser Zeit völlig zurückgefahren ist. Es findet kaum Umsatz statt, viele Arbeitsplätze sind ausgesetzt, die Saisoniers aus dem Grenzland pendeln nicht mehr. Dörfer, die im Sommer und Winter mehr Gäste haben als Einheimische, liegen nun ziemlich ausgestorben da.

Letzte Fahrt auf dem Silsersee: Europas höchstgelegene Schifffahrtslinie

Richtig. Die Einheimischen. Das sind die, die in der Nicht-Saison ‹immer noch› da sind. Von aussen betrachtet mag das so aussehen. Und es klingt, als wären sie zurückgeblieben, in einer Zeit allgemeiner Depression. Man kann aber auch die Perspektive umdrehen und dann ist das Gegenteil der Fall: Zufriedenheit und Glück. Denn Einheimische freuen sich tatsächlich über die Ruhe: Auf den immer noch sonnigen Wanderwegen ist man allein unterwegs; die Parkplätze sind nicht alle besetzt; im Alimentari kommt man wieder schnell dran; in der Bäckerei ist das Brot nicht ausverkauft; im Café (ja, es gibt noch diese Lokale für Einheimische) ist man wieder unter sich.

Dieses «Unter-sich-sein» ist vielleicht die Hauptqualität der Zeit, die keine Saison ist. Während die Saison alles abverlangt und meist mehr gearbeitet wird als die üblichen 42 Stunden, kehrt nun Ruhe ein. Man hat die Zeit wieder für sich, statt für den Gast. Und sie steht zur (mehr oder minder) freien Verfügung. Man kann sich wieder verabreden und mit seinen Nachbarn treffen. Egal ob auf einen Kaffee oder ein Abendessen, jetzt kann man sich ausführlich austauschen. Man kann selbst sich selbst erholen und etwas faulenzen. Aber auch Bilanzen werden gezogen, Pläne geschmiedet und umgesetzt (auch die für die Hauptsaison!).

Welchen Reiz diese gedehnte Zeit und der leere Raum haben, hat Daniel Schmid in seinem Film Hors Saison / Nachsaison (1992) gezeigt. Hier kehrt ein Mann, Valentin, in ein Hotel in den Bündner Bergen zurück, wo er als Kind gelebt hat. Das Hotel ist verlassen, die Möbel mit Tüchern bedeckt. Doch wie Valentin eine Tür nach der anderen aufstösst, beleben sich die Räume dahinter mit seinen Erinnerungen: Skurile Personen, fantastische Kostüme, rauschende Feste. «Nicht das Erlebte ist das Entscheidende, sondern die Vorstellung, die man sich davon macht», soll Daniel Schmid gesagt haben. Die Zeit jenseits der Saison verwandelt das Erleben in eine Erinnerung, die in die Zukunft projiziert werden kann – wie auf einer Kinoleinwand eben.

Fischerboot am Lago di Mezzola im Val Chiavenna (Foto: U. Diels)

Entsprechend produktiv und angenehm ist diese Saison – oder sagen wir: der Wechsel der Zeit. Gäbe es nur die Nicht-Saison, fehlten Reiz, Spannung und Input (und vermutlich auch das Geld). Aber das ganze Jahr Hauptsaison wäre grusig. Grad so, als würde man im geschäftigen Mittelland leben, wo es nur ein paar Tage Urlaub gibt. Fazit: ein weiterer Vorteil für die Bergregion!

2 Kommentare

  1. Ulrike Diels

    Zeit zum einkehren in sich. Die sollte man genießen. Schönes Foto mit dem grünen Boot.

  2. Elena

    Schöner Bericht, genau so ist es

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