Neben dem Schweizer Bergell, das am Lovero-Tobel in Castasegna endet, gibt es noch den italienischen Teil – er ist etwa halb so gross, wesentlich bevölkerungsreicher und umfasst die Gemeinden Villa di Chiavenna, Piuro sowie das Städtchen Chiavenna.

Geteerte Wege entlang der Maira bei Villa di Chiavenna
Geteerte Wege entlang der Maira bei Villa di Chiavenna
Intakte Siedlung rund um die Barockkirche Santa Maria dell'Assunta in Prosto di Piuro
Intakte Siedlung rund um die Barockkirche Santa Maria dell'Assunta in Prosto di Piuro

Mit dem Überschreiten der Grenze ändert sich nicht nur der Staat oder die Währung – ich finde es immer wieder erstaunlich, wie sich kulturelle und ökonomische Unterschiede sofort in Landschaftsbildern, im Städtebau oder in der Ästhetik niederschlagen. Im italienischen Bergell etwa endet die Umgehungsstrasse, hier fliesst der massive Verkehr nach wie vor durch die Ortschaften. Umgekehrt sind die alten Wirtschaftswege oft geteert – vielleicht auch, weil Italien eine Radsportnation ist. Oder die Kirchen: Während sich die Bündner Bergeller gleich im 16. Jahrhundert der Reformation anschlossen, blieb der italienische Teil katholisch. Entsprechend ist beispielsweise die Chiesa Santa Maria dell'Assunta in Prosto (einem Teil von Piuro) im blühenden Barock geschmückt.

Insgesamt ist das italienische Bergell etwas zersiedelter, auch weil rund um die alten Dorfkerne intensiv gebaut wurde. Trotzdem gibt es sehr schöne Flecken, insbesondere an den Berghängen rechts und links: Zum Beispiel Savogno oberhalb der Acquafraggia-Wasserfälle, das zwischendurch unbewohnt war, heute aber ein beliebtes Ausflugsziel ist, auch weil Wege direkt am Wasser hinauf führen. Oder Uschione, das südöstlich oberhalb von Chiavenna liegt und über zahlreiche Treppen erreicht wird. Auch Pianazzola, am Sonnenhang über der Stadt gelegen, wird heute neu belebt, ins alte Schulhaus ist ein so kreatives wie schönes Bed and Breakfast eingezogen.

Kirche und Pfarrhaus in Savogno (Foto: C.Peitz)
Kirche und Pfarrhaus in Savogno (Foto: C.Peitz)
Uschione ist besonders im Winter ein schöner Sonnenfleck
Uschione ist besonders im Winter ein schöner Sonnenfleck

Chiavenna ist ein kleines italienisches Städtchen. Kommt man mit dem Auto, sollte man es so schnell wie möglich stehen lassen, denn die Altstadt besteht hauptsächlich aus Fussgängerzonen und erschliesst sich nur flanierend. Nur so kann man in den vielen Läden bummeln, Gelaterie oder Crotti entdecken und ein Cappuccino auf der Piazza trinken: pure Italianità!

Chiavenna ist eine tolle Mischung aus Geschichte und Gegenwart – ins Deutsche übersetzt heisst der Name «Schlüssel», gemeint sind die zu zwei wichtigen Alpenpässen: dem Septimer einerseits (über den ich schon bei Casaccia berichtet habe) und dem Splügen andererseits. Beide sind heute ohne wirtschaftliche Bedeutung, das geht Chiavenna deshalb ähnlich. Es gibt keine signifikanten Produktionszweige (nicht einmal die Bierbrauerei hat überlebt!), die Schiene – deren Hauptzweig schon in Colico ins Valtellina abbiegt – endet hier, die Klöster sind verlassen.

Charme des Verfalls: der Palazzo Salis in Chiavenna, heute ein B&B
Charme des Verfalls: der Palazzo Salis in Chiavenna, heute ein B&B
Strassenbild Chiavenna: in der alten Kirche ist heute ein Bekleidungsgeschäft
Strassenbild Chiavenna: in der alten Kirche ist heute ein Bekleidungsgeschäft

Aber genau diese Mischung aus einstiger Grösse und heutiger nicht allzu heftiger Bewirtschaftung macht den Charme dieses Städtchens aus: Es ist nie überlaufen – ausser an einem Ostersamstag, wenn sich sogar das Oberengadin einen Hauch Frühling gönnen will. Zahlreiche originale kleine Läden, darunter Bäckereien, Weinhändler, Metzgereien, Pasta fresca, aber auch ein Fair-Trade-Shop und Apotheken, besiedeln die Innenstadt.

Noch mehr Bars & Cafés laden an jeder Ecke zu einem Apérol Spritz oder feinem Gebäck ein. Dazu die Crotti, die sich gleich hinter dem Bahnhof an den Hang schmiegen; sie sind insbesondere Samstags, wenn auf dem Parkplatz am Bahnhof Markt ist (etwa von 8–16 h), sehr gut besucht. Hier lagern in schier endlosen Regalen der Käse, die Salametti, die Bresaola & der Wein. Chiavenna ist entsprechend ein kleines Einkaufsparadies – und das nicht nur für Schweizer*innen, die vom günstigen Wechselkurs profitieren.

Alte Crotti und Fabrikanlagen kurz vor Chiavenna
Alte Crotti und Fabrikanlagen kurz vor Chiavenna
Unendliche Käseleiber in den Crotti von Chiavenna (Foto: C.Peitz)
Unendliche Käseleiber in den Crotti von Chiavenna (Foto: C.Peitz)