Prisca Roth

Korporativ denken, genossenschaftlich organisieren, feudal handeln

Die Gemeinden und ihre Praktiken im Bergell des 14.-16. Jahrhunderts

Zürich: Chronos Verlag, 2018

Der Titel ist etwas sperrig, zugegeben. Das liegt vermutlich daran, dass das Buch von Prisca Roth eine Dissertation ist, die am Historischen Seminar der Uni Zürich und am Institut für Kulturforschung Graubünden entstanden ist.

Tatsächlich ist dieser Blick auf die Bergeller Geschichte aber leicht geschrieben und  geht einer spannenden Frage nach: Wie haben Bergdörfer im Spätmittelalter und in den frühen Neuzeit funktioniert? Was hat damals eine Gemeinde ausgemacht? Was hatte sie zu regeln und welche gesellschaftlichen Entwicklungen waren wichtig?

Das Bergell steht hier stellvertretend für viele Berggemeinden, ist aber gleichzeitig ein Spezialfall. Denn das Tal stand, wie Roth beschreibt, seit dem Jahr 960 unter kirchlicher, nicht unter feudaler Herrschaft. Otto der Grosse, der erste deutsch-römische Kaiser, überliess es im Tausch gegen andere Gebiete dem Bischof von Chur. Die lokalen wichtigen Familien (die Salis & Castelmur, die Prevost & Stampa) waren Vasallen des  Bischofs. Aber die Herrschaftsstrukturen waren nicht immer klar, der Bischof ziemlich weit weg. Das erklärt auch, weshalb sich die Bergeller schon früh im 16. Jahrhundert der Reformation anschlossen – es war für sie nicht nur ein religiöser Befreiungsschlag.

Und: eine neue Rolle kam in dem teilweise unklaren Machtgefüge auch den Gemeinden zu. Sie verhandelten Nutzungen von Kastanienhainen, Alpen und Wäldern. Sie regelten das Wegerecht (nicht zuletzt über die wichtigen Pässe), bauten Wasserleitungen und Brunnen und genehmigten den Handel mit Getreide und Brot. Wie verhandelt wurde, das zeigen bis heute unzählige Urkunden, die sich Prisca Roth in ebenso unzähligen Archiven angeschaut hat und nun zitiert. Im Detail lässt sich so verfolgen, wie schon damals jede Rechtslücke und jede unterschiedliche Perspektive auf Rechtsstrukturen mit Witz und Intelligenz genutzt wurde.

Gleichzeitig erzählen diese Mikrogeschichten von der Makrogeschichte, davon, wie ein Tal mitten im Berggebiet von der grossen Geschichte gestreift wurde und schon immer eine Migrationsfläche war. Viele wanderten aus, aber auch viele wanderten ein, wurden Bürger und durften mitbestimmen. Prisca Roths historiografische Methoden sind dabei hochmodern, so etwa ihr vielschichter Begriff der «Gemeinde», den sie weniger statisch, sondern sehr mobil konzipiert und anhand des Materials erlebbar macht. Bebildert ist der Band mit einem Comic des Illustrators Jon Bischoff, der im Bergell zuhause ist.

Für mich war das Buch ein Geschenk, nicht nur, weil es die Geschichte meiner neuen Heimat erzählt, sondern ein Panorama von Leben & Strukturen im Alpenraum sichtbar macht, die sich bis heute in der Anlage und Architektur des Bergells niederschlagen. Es macht Spass, mit so viel mehr Wissen im Kopf durch die Strassen, Weiden & Wälder zu laufen und in den historischen Häusern zu wohnen. Merci!

Pio Corradi, Dieter Bachmann, Urs Frey

Die Leute von / La gente di Soglio

Zürich: Offizin 2004

Ein Fotograf, ein Journalist, ein Kulturgeograf. Das ist eine interessante Mischung kreativer Kraft, die sich für dieses Buch zusammengetan hat, um – sagen wir einmal – das «Phänomen Soglio» zu verstehen. Denn Soglio ist nicht einfach ein Dorf. Selbst im Bergell nimmt es eine Sonderstellung ein. Anders als die anderen Weiler der Gemeinde liegt es fernab der Strasse. Man kommt nicht einfach so vorbei, man muss dorthin wollen. Wie ein Nest krallt es sich an den sonnenbeschienen Südhang, die Aussicht auf die gegenüberliegenden Dreitausender ist spektakulär. Zusätzlich scheint es wie aus der Zeit gefallen, auch wenn hier und da Neubauten stehen oder innovative Renovierungen alter Gebäude stattfanden.

Aber wie lebt es sich in einem solchen Dorf? Wie kommen die Einheimischen – es sind knapp 200 – mit dieser Ausnahmesituation zurecht? Wie mit den Touristen, die im Sommer massenhaft einschwärmen? Und wie mit den Zugereisten, die versuchen, sich hier eine Existenz aufzubauen? Das Buch ist zuallererst Bildband und eine eindrückliche Momentaufnahme von 2004: Pio Corradi hat die Menschen fotografiert, die damals in Soglio lebten. Egal ob sie bei ihren Tätigkeiten oder im Stillstand für den Fotografen aufgenommen sind, vermitteln sie in diesen Portraits einen starken Eindruck. Häufig blicken sie direkt ins Auge des Betrachters; das beugt jedem Voyeurismus vor und stellt die Gegenfrage: Warum interessierst Du Dich für mich?

Dieser Frage versuchen auch die Essays von Bachmann & Frey nachzugehen, letzterer eher wissenschaftlich und auf dem Boden der Tatsachen (selbst die Frage nach der Schönheit Soglios wird mit ästhetischen Gesetzen beantwortet), Bachmann eher essayistisch. Er hat mit den fotografierten Menschen gesprochen und lässt sie zu Wort kommen, versucht zu verstehen, was ihn selbst und andere an Soglio fasziniert. Wen diese Frage ebenfalls interessiert, wird an diesem zweisprachigen Buch grossen Gefallen finden.

Mengia Spreiter-Gallin

Castasegna – località di confine / Grenzdorf

St. Moritz: Montabella Verlag, 2006

Noch ein Buch über eines der Dörfer im Bergell, aber ein komplett anderer Ansatz. Mengia Spreiter Gallin ist in St. Moritz als Enkelin des berühmten Hotelarchitekten Karl Koller geboren und aufgewachsen, lebt aber seit 1961 in Castasegna. Sie war hier Mutter und Hausfrau, aber auch Coiffeuse, Politikerin und Gemeindepräsidentin. Heute betreut sie das Archiv der Gemeinde und gibt gelegentlich Führungen durch die Villa Garbald. Was sie an ihrer Heimat interessiert, ist nicht die touristische Projektion, sondern es sind handfeste Fakten.

Wie hat sich das Grenzdorf Castasegna durch die Geschichte entwickelt? Wann wurden Zollstationen, Strassen und Brücken gebaut? Wann Schulen gegründet und die Wasserversorgung gesichert? Wie haben sich die Menschen hier finanziert? Welche Berufe waren wichtig? Wann florierten welche Geschäfte? Und weshalb? Oft spielt die Grenze eine grosse Rolle, sie brachte Handel, Verkehr, aber immer wieder auch Menschen, die sich in Castasegna niederliessen.

Mengia Spreiter Gallin lässt hier ihren reichen Erfahrungsschatz einfliessen – die zähen Verhandlungen um die Umgehungsstrasse etwa –, bildet aber auch umfassend Archivmaterial ab (historische Fotos inklusive!) und zitiert aus Gemeindeversammlungen seit dem frühen 19. Jahrhundert. Das ist eine genaue & gleichzeitig liebevolle Chronik eines Dorfs, die mich als Neuzugang informiert & begeistert hat.

Società femminile Bregaglia Sottoporta

Nossa storia / Unsere Geschichte

Meilen: Eigenverlag S. Alloatti, 2015

Zum 90. Jubiläum des Frauenvereins Bergell Sottoporta haben die Mitglieder ein tolles Buch konzipiert. Einerseits erzählen sie ihre Geschichte: Wie der Verband als Frauenverein zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand und weniger auf die Politik als auf die Bildung der Frauen zielte. Es ging um Haus- und Handarbeit, die in vielen Kursen gefördert wurde – bestimmt haben die Frauen aber auch einfach gerne beisammen gesessen und geplaudert. Das ist heute noch immer so, auch wenn sich die Anliegen etwas geändert haben und der Verein heute eher soziale Aufgaben wahrnimmt.

Toll aber ist die Idee, die Geschichte der Frauen im Tal über die Rezepte zu erzählen, denn was auf den Teller kommt und wie frau es zubereitet, das sagt viel über eine Region. Das Bergell unterhalb der Porta ist klimatisch mild, entsprechend wächst Vieles: Viele Obstsorten, verschiedenes Gemüse, aber auch Kartoffeln, Roggen, Weizen und Mais. Daneben (ganz wichtig!) die Kastanien, aber auch Kräuter von den Bergwiesen. Und selbstverständlich Milch & Milchprodukte. Weniger oft Fleisch, das aber, wenn ein Tier geschlachtet wurde, reichlich vorhanden war und dann auch zu Wurst verarbeitet wurde. Ein grosser Teil gilt auch den Süssigkeiten: Kuchen, Guetzli & Konfis.

Grossartig auch, dass das Buch zweisprachig angelegt ist: in Deutsch & Italienisch, so dass viele hier mitkochen & geniessen können. Eine rundum gelungene Jubiläumsfeier!

 

Diego Giovanoli

Historische Gärten von Maloja bis Chiavenna

Malans / Chur: Bündner Heimatschutz 2016

Das ist ein sehr hübsches, grenzüberschreitendes Handbüchlein: Klein im Format, passt es in jeden Rucksack und sorgt dafür, dass man zwischen dem üppigen Grün des Bergells die historischen Gärten nicht verpasst. Historisch meint aber nicht, dass sie heute verlassen und verwahrlost wären. Ganz im Gegenteil, für viele Bergeller sind ihre Gärten ihr ganzer Stolz. Das betrifft zuallererst natürlich die «Subsistenzgärten» (dieses Wort habe ich auch neu gelernt): das sind die Flächen, auf denen Gemüse und Obst angebaut werden. Und: Wer am Haus keinen hat, darf in den kollektiven Gärten seine Pflänzchen ziehen.

Spektakulärer für Tourist*innen sind die herrschaftlichen Gärten, die rund um die Palazzi schon im 16. Jahrhundert gebaut wurden. Hier geht es um Schmuck und Repräsentation, viele haben sich erhalten und sind bis heute zu bewundern – beispielsweise an den Salis-Palästen in Soglio, Bondo oder in Chiavenna. Berühmt auch der um die Villa Vertemate in Piuro. Nicht weniger schön auch die «neueren» Gärten, so zum Beispiel um die Villa Garbald in Castasegna.

Sachkundig hat Diego Giovanoli (der bis 2001 Mitarbeiter der Denkmalpflege Graubünden war und eine Reihe interessanter Bücher veröffentlich hat) alle relevanten Informationen zusammengestellt und nach Orten sortiert. So lässt sich wunderbar z.B. entlang der Via Bregaglia eine Gartenwanderung planen.

Marcella Maier

Das grüne Seidentuch: eine Schweizer Familiensaga

München: Piper Verlag, 2008

Ein Roman über Bergell & Engadin oder wie der Untertitel schreibt: eine Familiengeschichte. Basierend auf autobiografischen Daten ihrer Verwandtschaft erzählt Marcella Maier von vier Generationen, in denen die Frauen Verantwortung übernehmen müssen: Die erste ist Alma (1797-1877), eine Witwe, die nach dem Tod ihres Mannes und dessen Verwandten mit ihrer Tochter in Soglio überlebt, weil sie in den Dienst der Familie Salis treten kann.

Ihre Tochter Lisabetta (1831-1913) verdingt sich im Engadin als Magd, heiratet einen Ruttner – diese waren für Pflege der Pässe zuständig –, aber auch er stirbt zu früh und sie bleibt mit den Kindern zurück, kann sich aber als Bäckerin in Sils Maria durchschlagen. Maria (1867-1957) arbeitet in einem Wirtshaus in Silvaplana, als ihr der Visionär Padruot begegnet, der ein Elektrizitätswerk entwirft und baut, aber ins Ausland flieht, als der Konkurs droht (niemand nimmt ihm den Strom ab). Wieder muss eine Frau für Einkommen und Kinder sorgen, ihr gelingt als Hebamme der soziale Aufstieg und bescheidener Wohlstand in St. Moritz. Die letze, Nina (1890-1975), darf die Sekundarschule besuchen und anschliessend im Kurverein arbeiten. Sie ist die einzige, die ihr Leben gemeinsam mit ihrem Mann, Diethelm, bewältigen darf, aber auch diese Familie wird heftig vom Zeitgeschehen gebeutelt: Weltkriege und Wirtschaftskrisen gehen auch am Engadin nicht vorbei.

Faszinierend ist, wie Maier die individuelle Geschichte mit einer allgemeinen verbinden kann – nie verliert sie die Perspektive ihrer Heldinnen aus dem Blick, schildert aber präzise die sozialen Lebensbedingungen: Arbeits- und Dienstverhältnisse, Wohnsituationen, Religions- und Familienbeziehungen einerseits, aber auch grössere Entwicklungen wie den touristischen Aufschwung im Engadin. Beharrlich kämpfen die Frauen um ihre Existenz – leicht hat es ihnen keine Epoche gemacht.

Maier selbst (Jahrgang 1920), ist eine Institution im Engadin, sie hat als Autorin, Journalistin und als Politikerin für eine Zukunft ihrer Gemeinde und ihrer Bewohnerinnen verhandelt. Ihre eigene Biografie bliebe allerdings noch zu schreiben. Bislang fehlt sogar ein Wikipedia-Eintrag... Hier ein recht schönes Interview mit ihr aus der NZZ.

Diego Giovanoli

Costruirono la Bregalia: Biografia architettonica della Bregalia svizzera 1450–1950

Chur: Denkmalpflege Graubünden, 2014

Das ist ein Buch für alle, die es ganz genau wissen wollen. Auf 300 grossformatigen Seiten präsentiert Diego Giovanoli – Mitarbeiter der Denkmalpflege Graubünden, der auch das Buch über die Historischen Gärten im Bergell verfasst hat – die Geschichte seiner Heimat anhand der Architektur. «Sie haben das Bergell erbaut» heisst der Titel übersetzt, gemeint sind damit aber weniger berühmte Architekten als die Bewohner des Tals, die sich zu allen Zeiten in den verschiedenen Dörfern Gebäude nach ihrem Bedarf schufen: Wohnhäuser, Ställe, Kirchen, öffentliche Gebäude, Trutz- und Prunkbauten. Aber auch Brunnen, Brücken und Strassen. 

Nach einer grundsätzlichen Einführung zur historischen Entwicklung des Bergells widmet sich Giovanoli in alphabetischer Reihenfolge den einzelnen Dörfern. Zunächst beschreibt er das erfasste Inventar und spezifische Identität des Dorfs (mit vielen Gesamtansichten), um dann ins Detail zu gehen. Wo waren Brücken nötig und in welchen Epochen entstanden sie? Welche Häuser? Das Dokumentationsmaterial ist jetzt umfangreich: historische und neue Fotografien, Zeichnungen, Grundrisse & Baupläne, anhand deren man die Gebäude quasi verstehen und begreifen kann. Interessant auch, wie verschiedene Häuser zu verschiedenen Epochen ergänzt und verändert wurden.

In diesen Band kann man sich stundenlang vertiefen. Ein Gewinn ist es, wenn man zuvor die Dörfer gut angeschaut hat. Eine ideale Ergänzung deshalb auch zu den Wanderungen auf der Via Bregaglia.