Ein Gespräch zwischen André Breton und Alberto Giacometti: «Was ist dein Atelier?», fragte Breton. Giacometti erwiderte: «Zwei Füsse, die gehen.»
Aus: James Lord, Alberto Giacometti – eine Biografie
Irgendwann war laufen & gehen etwas Alltägliches: Den einfachen Menschen, die kein Pferd besassen, blieb schlicht nichts anderes übrig, als sich zu Fuss auf den Weg zu machen. Heute hat jeder und jede ein Auto vor der Tür (oder mindestens ein Velo) oder nutzt den öffentlichen Verkehr. Laufen ist seither ein Luxus, wir nennen es «wandern» und tun es in unserer Freizeit, zu unserem Vergnügen und um «mal raus» zu kommen. Das ist etwa seit der Aufklärung so, weiss Wikipedia, und seither schreiben Menschen auch darüber: Einerseits ganz praktische Wanderführer, andererseits auch Poetisches & Literarisches, wo reflektiert wird, was beim Gehen passiert und wie sich Menschen dabei verändern. Meinen Zettelkasten dazu möchte ich hier präsentieren.
Cheryl Strayed
Wild: A Journey from Lost to Found
London: Atlantic Books, 2013
Ich muss diese Liste mit diesem Buch beginnen, denn es war das erste, das mich fasziniert hat: Die Geschichte einer Frau, deren Leben aus den Fugen geraten ist und die deshalb beschliesst, auf dem 4279 km langen Pacific Crest Trail zwischen Mexiko und Kanada zu wandern. Als blutige Anfängerin begeht sie jeden Fehler: der Rucksack ist zu schwer, die Schuhe zu klein, dem Kocher fehlt die richtige Brennpaste. Auch das Klima ist hart: die Wüste staubtrocken, die Berge noch verschneit. Dass sie trotzdem weite Strecken schafft, verdankt sie ihrem eisernen Willen, ihrem feinen Humor und immer wieder der Hilfe von Mitwanderern & Einheimischen.
Das Buch liesst sich entsprechend amüsant, gleichzeitig ist es ein Entwicklungsroman, in dem die Wandertage ganz beiläufig zu Lehrtagen werden und die Heldin lernt, sich auf sich selbst und ihre Stärken zu verlassen. Man muss keine 4000 Kilometer gehen, um an ihre Gedanken & Gefühle anknüpfen zu können. Gelegentlich treten ihre Flashbacks & Erinnerungen zu sehr in den Vordergrund, werden aber schnell von Erlebtem aufgefangen. Eine grossartige Reflexion auf das Laufen & Wandern und das, was sich dabei in Herz & Kopf bewegt!
Das Buch ist übersetzt, ich ziehe die Originalfassung vor, die Sprache ist einfach schöner. Und einen Film gibt es auch – aber irgendwie ist das langsame Wandern nicht für das Medium geeignet, eher für Schnelligkeit und Roadmovies (das wäre mal ein Thema für einen Blogeintrag).
Keri Smith
Mach dich auf! (The Wander Society)
München: Verlag Antje Kunstmann 2017 (Original: 2016 bei Penguin)
Dieses Buch ist ein faszinierendes Fundstück! Die kanadische Konzept-Künstlerin hat ihre Leser*innen schon mehrfach zur Kreativität angeregt – so mit dem Band «Mach dieses Buch fertig!» (2010). Nun endeckt sie das Gehen & Wandern und präsentiert dazu ein fiktives Konstrukt: In einer Ausgabe von Walt Whitmans Leaves of Grass will sie einen Hinweis auf eine «Wander Society» gefunden haben, die ihren Mitgliedern rät, sich jeden Tag auf den Weg zu machen. Ohne Ziel. Mit dem, was man hat. Aber mit wachen Sinnen. Denkend. Infragestellend.
Um diesen (fiktiven) Verein herum wird nun ein Zettelkasten zusammengestellt: es gibt eine Definition & eine Philosophie des Wanderns, eine Einführung ins Wandern, diverse Aufgaben zur Feldforschung und auch einen praktischen Teil. Dazwischen liegen hübsche und amüsante Illustrationen. Zudem lässt sich das Buch als Bibliografie zum Wandern nutzen, so gespickt ist es mit Zitaten von Aristoteles bis Wittgenstein, von John Muir bis Alice P. Hobbs (und Hinweisen zum Weiterlesen).
Das Buch ist selbst ein Kunstwerk, ein kleines intellektuelles Feuerwerk, das sich mit allen Facetten des Wanderns beschäftigt, die man beim Schweizerischen Alpenverein noch nie diskutiert hat. Toll auch die persönliche Website von Keri Smith und die Website der Wander Society. Das Motto auch hier: «solvitur ambulando» (es wird beim Gehen gelöst). Das sollte man / frau öfters sagen und sich auf den Weg machen...
Werner Herzog
Vom Gehen im Eis
Frankfurt: Fischer Taschenbuch, 2009 (Original 1978 bei Hanser)
Eine Wanderung eines Cinéasten begeistert natürlich die Filmfrau (die ich von Haus aus bin). Da macht sich im Herbst 1974 Werner Herzog auf den Weg von München nach Paris, weil Lotte Eisner, die Filmkritikerin und -historikerin, krank ist und möglicherweise im Sterben liegt. Er läuft symbolisch, aber auch ganz praktisch gegen das Schicksal an: Über belebte Strassen, die ihn das Fürchten lehren, und quer über die lehmigen Felder, in denen seine Füsse fast stecken bleiben. Das Wetter Ende November ist meist katastrophal, entweder es regnet oder es schneit, auf jeden Fall pfeifen Winde aus allen Richtungen. Besonders gut ausgerüstet ist der Mann auch nicht: allein ein Matchsack, ein Kompass, ein paar feste Wanderschuhe, eine Lederhose.
Aber irgendwie zählt diese Ausrüstung sowieso nicht (woran sich manche fetischisierenden Wanderbücher und -Blogs der Gegenwart ein Beispiel nehmen könnten!). Was zählt ist das Weitergehen in dieser rasenden Einsamkeit, die auch in den Dörfern nicht gelindert wird. Immer bleibt Herzog ein Aussenstehender, der die Bevölkerung irritiert, aber dadurch auch sehr gut beobachten kann. Seine Wahrnehmung rettet ihn aus der Isolation und will mehr: Eine andere Zukunft und eine kritische Auseinandersetzung auch mit der Vergangenheit.
Das Gehen selbst ist aber primär eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Manchmal laufen die Gedanken so wirr wie die kaputten Füsse, manchmal aber auch extrem präzise. Deshalb hat Herzog sich am Schluss verwandelt, er ist «einer zu Fuss» geworden, ein «Ungeschützer». Seinen Glauben und seine Utopie aber hat er gerettet. «Öffnen Sie das Fenster», sagt er schliesslich in Paris zur Eisnerin, «seit einigen Tagen kann ich fliegen».
Robert Louis Stevenson
Travels with a Donkey in the Cevennes
Oxford: Oxford University Press, 1993 (Original 1879)
Nun ein Klassiker. Schon deshalb, weil er aus dem vorletzten Jahrhundert stammt. Aber vielleicht auch deshalb, weil hier – meines Wissens nach erstmals – eine «sinnlose» Reise beschrieben wird. Eine Reise ohne Ziel, nur um des Reisens willen.
Stevenson ist hauptsächlich bekannt für Die Schatzinsel (1883), einem Piraten- und Abenteuerroman, der gedanklich übrigens in Davos (!) entstand. Obwohl er ausgebildeter Jurist war, interessierte sich Stevenson nur für das Reisen und die Schriftstellerei, da lag es nahe, zunächst einmal Reiseberichte zu verfassen. Travels with a Donkey ist nicht sein erster, vermutlich aber der witzigste, dafür sorgt insbesondere die Eselin Modestine. Sie wird angeschafft, weil Stevenson eine Erfindung gemacht hat – den Schlafsack. Nur besteht der aus Leder und Fellen, viel zu schwer, als dass ihn ein Mensch tragen könnte.
Aber die Eselin ist störrisch, mag auch nicht schwer tragen oder laufen (oder jedenfalls nicht in die Richtung, die der Reisende einschlagen will). Das sorgt für erhebliche Reibungskräfte, die den Wanderbericht aufpeppen und immer wieder für komische Momente sorgen. Trotzdem kommen sie vorwärts, von der nordwestlichen Seite der Cevennen bis in ihren Südosten (eine Karte findet sich bei dem englischsprachigen Wikipediaeintrag).
Doch, wie gesagt, es geht nicht ums Ziel. Das hat Stevenson so gut formuliert, wie niemand anders, deshalb hier das Zitat in voller Länge:
«For my part, I travel not to go anywhere, but to go. I travel for travel's sake. The great affair is to move; to feel the needs and hitches of our life more clearly; to come down off this feather-bed of civilization, and find the globe granite underfoot and strewn with cutting flints. Alas, as we get up in life, and are more preoccupied with our affairs, even a holiday is a thing that must be worked for. To hold a pack upon a pack-saddle against a gale out of the freezing north is no high industry, but it is one that serves to occupy and compose the mind. And when the present is so exacting who can annoy himself about the future?»
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Wer sofort anfangen möchte zu lesen, kann den Text im Gutenberg-Projekt einsehen und runterladen.