Dass Castasegna der letzte Ort auf der Schweizer Seite des Bergells ist, macht es nicht weniger interessant, ganz im Gegenteil. Das Klima auf 690 Höhenmetern ist schon fast mediteran, hier stehen Palmen, Feigen und andere Obstbäume. Die alten und neuen Zollstationen zeugen vom intensiven Handel mit den italienischen Nachbarn und anderen Reisenden. Dieser Austausch liess das Dorf zu verschiedenen Epochen florieren, das zeigt die Architektur: Neben den traditionellen Häusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert finden sich auch viele, die erst im 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Optisch ergänzen sich beide auf das Schönste und sogar die moderne Architektur spielt in Castasegna keine geringe Rolle.
Castasegna lässt sich ganz wörtlich übersetzen: «Casta» von «castagna», der Kastanie, «segna» von «segnare» oder «segno», bezeichnen, markieren, das Zeichen. Der Ort liegt zwischen Kastanienhainen, es sind die grössten in ganz Europa. Ihre Kultivierung ist eine Wissenschaft für sich, die Bäume brauchen viel Pflege, genauso wie der Rasen, der unter ihnen liegen muss (damit einerseits Tiere darunter weiden können und andererseits die Kastanien sanft fallen, ohne Schaden zu nehmen). Diese Notwendigkeit lässt umgekehrt die Landschaft wie einen Park aussehen. Sicher sind hier englische Adlige vorbeigekommen und haben sich die Ideen für ihre «englischen» Gärten mitgenommen. Spannend ist auch der Lehrpfad durch den «Brentan» – man spaziert für eine knappe Stunde und erfährt so manches über die Veredelung, die Ernte und die Verarbeitung der Kastanie in den «cascine» genannten Hütten.
Genausowichtig wie die Kastanie ist aber die Grenze, die schon seit 1186 zwischen dem Bistum Chur und dem Bistum Como ausgehandelt wurde und am Lovero- bzw. Luver-Tobel liegt; das ist der Bach, der sich von Norden ins Tal stürzt und den man noch heute auf der Fussgängerbrücke zwischen Castasegna und Villa di Chiavenna überschreitet. Diese Grenze liess in Castasegna Kasernen, Zollstationen, Geschäfte und einige Hotels entstehen – heute existiert noch das Garni Post, im ehemaligen «Weissen Kreuz» ist die Produktion der Soglio-Produkte untergebracht.
Das architektonische Highlight des Ortes ist allerdings die Villa Garbald, ein Herrenhaus, das der deutsche Architekt Gottfried Semper für den ansässigen Zollinspektor Agostino Garbald und seine Frau, Johanna Garbald-Gredig entwarf (einer Schriftstellerin, vgl. auch die Seite Wanderliteratur). Das Haus wirkt im Gegensatz zu vielen Semper-Bauten nicht pompös, sondern zeitlos elegant. Es ist das einzige Gebäude von Semper, das südlich der Alpen steht, allerdings war er selbst nie vor Ort. Durch das Engagement einer Stiftung ist das Haus nicht nur renoviert, sondern durch ein modernes Gebäude von Miller / Maranta ergänzt worden; die Villa dient heute als Seminar- und Kulturzentrum. Zudem hat der lokale Architekt Armando Ruinelli das Ensemble durch eine neue Cascina ergänzt, ein kleines Häuschen, das an die Form der Kastanienräucherspeicher erinnert, und das heute von Wissenschaftler*innen und Kulturschaffenden als Studio für eine Retraite gemietet werden kann.
Aber auch als Dorf hat Castasegna grossen Charme: Es teilt sich in die Ortsteile Brentan (mit einer Arbeiter-Siedlung des Architekten Bruno Giacometti), der zu Füssen des Kastanienhains liegt; in den Boscaia (tief an der Maira gelegen, waren hier früher hauptsächlich die Nutzgärten und Ställe) und das Villaggio. Diese verkehrsberuhigte Hauptstrasse kann man gut entlang spazieren, denn den Durchgangsverkehr hat man unter eine Gallerie geschickt. Hier entdeckt man Kirchen aus mehreren Jahrhunderten, alte Brunnen und gepflegte Gärten. Nach Westen hin öffnet sich das Dorf und die Häuser stehen nun weiter auseinander: Sie sind erst Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, wie das Schul- und Ratshaus.
Was mir an Castasegna besonders gefällt, ist das Zusammenspiel der Farben: sanftes Gelb und abgetöntes Weiss, helles Rosé und nachgedunkeltes Holz, zartes Oliv und kräftiges Waldgrün. Dazu das Grau der Steine. Besonders ist aber auch die Lebendigkeit des Dorfs: Die Einheimischen sitzen zusammen im Café und schwatzen, man trifft sich beim Einkaufen, beim Yoga oder Turnen, man veranstaltet Feste & Flohmärkte. Und anders als in vielen kleinen Dörfern hat man hier auch für Touristen und Zugereiste ein offenes Ohr.
Im Wegenetz des Bergells funktioniert Castasegna oft als Endpunkt einer Wanderung, man kann aber auch gut von hier aufbrechen: Entweder westlich nach Chiavenna und Savogno, oder gegen Osten auf der Via Bregaglia oder Richtung Soglio. Eine Orientierung nach Nord oder Süd ist sportlich: wer will, kann bis zu 2000 Höhenmeter hinter sich bringen.
Viel Wissenswertes über Castasegna ist auch auf der Website von Castasegna Viva zu finden, ein Verein, der sich für ein lebenswertes Bergdorf einsetzt (in italienischer Sprache).