Ansichten einer Reisenden

Produzieren statt konsumieren

Was mich immer wieder frappiert, wenn ich hinunter in die Städte komme, ist der Konsum. Schon am Bahnhof gibt es rechts und links unzählige Läden, in denen man sich für die Reise verpflegen kann: Hier Brezeln, Sandwiches, Donuts, dort Kaffee, Zigaretten, Zeitschriften. Tritt man aus der Bahnhofshalle, sind die flächendeckenden Schaufenster und Reklamen überwältigend. Geschäftig laufen Menschen zwischen ihnen, Einkaufstüten in der Hand & Handys am Ohr. Es ist relativ schwer, sich dieser Konsumwelt zu entziehen – sucht man einen Ort für die Pause, geht es ins Starbucks. Will man etwas unternehmen, geht es shoppen. Fast scheint es, als werde man in der Stadt nur noch als Konsument angesprochen.

In den Bergen ist das definitiv anders.

Die Einkaufsmöglichkeiten sind ziemlich begrenzt. Wenn man Glück hat, existiert noch ein kleiner Dorfladen, eine Metzgerei oder Sennerei. Dort, wo ich lebe, ist allein der nächste Coop 38 km weit entfernt, die nächste Migros 88 km. Die nächste Kaffeekette vermutlich in St. Gallen, der nächste Fashion-Discounter in Como, Chur oder Lugano.

Jetzt könnte man die Berggebiete bedauern. Bei mir ist das Gegenteil der Fall. Ich bin extrem froh, einmal nicht als Konsumentin angesprochen zu werden. Für geraume Zeit nicht mit Leuchtreklamen und markschreierischen Angeboten konfrontiert zu sein. Gelegentlich vergesse ich in den Bergen sogar die Geheimzahl meiner Kreditkarte, weil ich einfach nicht dazu komme, sie einzusetzen. Denn hier wird fast überall bar bezahlt; auch das hält den Konsum in Grenzen.

Produktion statt Konsum: Keramikatelier von Irma Siegwart

Ort der Kreativität: Das Atelier von Irma Siegwart in Stampa / Coltura.

Verkauf lokaler Produkte: Getrocknete Kastanien in der Bottega in Soglio

Aber worum dreht sich das Leben hier? Mir ist aufgefallen, dass wesentlich mehr produziert wird. Trifft man sich abends zum Essen, zählt weniger die tolle Flasche Wein, die man in einer tollen Weinhandlung gekauft hat. Sondern der Salat aus selbstgezogenen Rüebli, die kross gebackenen Zucchetti oder die Kürbissuppe aus Eigenanbau. Jede und jeder hat einen Garten, in dem Obst und Gemüse gepflegt und gehegt werden. Überall sieht man Honig, der genauso produziert wird wie Marmelade. Ganz zu schweigen vom Grundnahrungsmittel Kastanien, die hier wachsen, blühen, reifen. Und gemeinsam geerntet & verarbeitet werden – zu Mehl, Suppen, Brot & Torten (die schliesslich, glücklicherweise, auch zu kaufen sind).

Es geht jedoch noch weiter. Brauche ich für jede Kleinigkeit einen Handwerker, machen meine Nachbarn fast alles selbst. Sie sägen & hacken ihr Holz, sie zimmern Möbelstücke & Wände, sie erledigen Reparaturen im Haus & am Auto. Andere stricken & nähen & töpfern.  Und dritte malen oder schreiben. Sicherlich wird nicht immer alles selbst gemacht, aber doch so viel, dass es mich extrem beeindruckt. Naja, werden jetzt viele sagen, es gibt ja schliesslich noch das Internet. Aber einerseits sitzen die Leute hier nicht ständig vor dem Compi und bestellen irgendwelches Zeugs. Andererseits habe ich auf der Post im Zürcher Kreis Foif mehr Zalando-Pakete gesehen als im Bergell.

Dieses Selbermachen & Hervorbringen übersetzt sich für mich auch in die Alpen-Landschaft. Sie ist eben kein Vergnügungspark für Konsumenten, im schlimmsten Fall «gezielt für die heutigen Freizeitinteressen umgebaut und technisch aufgerüstet» (Werner Bätzing). Für ein Unterland, das hier weiter seine Fun- & Konsumorientierung pflegen kann. Sondern auch ein Raum, der aktiv gewonnen sein will. Gehe ich zum Beispiel zu Fuss, muss ich jeden Schritt selbst machen und jeden Höhenmeter erkämpfen. Rechts und links sehe ich dabei Menschen auf den Wiesen beim Heuen, andere, die ihre Tiere auf die Weide bringen. Und auch ich konsumiere nicht, sondern produziere: meine eigene Leistung, meine eigenen Gedanken, meinen eigenen Blick. Ich werde kreativ, statt nur zu erleben, was andere sich für mich ausgedacht haben.

Deshalb sollte man den Berggebieten zurufen: Bleibt bitte so wie Ihr seid! Versucht nicht, Gäste und Besucher zu gewinnen, indem Ihr deren Konsumhaltung bedient. Es gibt heute schon genug Touristen, die die Kreativität und Produktivität  schätzen, diese andere Form des Wirtschaftens, die dazu dient, «die Mittel zum Leben zu erzeugen» (Bätzing), nicht simplen Konsum.  Und es werden – so meine Prognose – immer mehr!

 

Das lesenswerte Buch von Werner Bätzing heisst 
«Zwischen Wildnis und Freizeitpark: Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen»
Rotpunktverlag: Zürich 2015.

Angebote zum Kreativurlaub gibt es beispielsweise auf https://www.aktiv-kreativ-graubuenden.ch

Auch auf der Website von Werner Anliker, http://www.wandern-ist-mehr.ch/de/ werden Wander- und Kräuterwochen im Bergell angeboten

 

 

5 Kommentare

  1. Fotograf Olten

    Dank Dies ist ein sehr guter Artikel!.Ich mag Deine Webseite!

  2. Annamarie Gygax-Muggli

    Danke für die Info, interessiere mich sehr für dieses Tal, unser Schwiegersohn hat dort Verwandte (Giovanoli).

  3. Annamarie Gygax-Muggli

    Wie sieht es in Spino aus, sind die betroffenen Häuser nicht mehr bewohnbar?

    • VR

      liebe Annamarie, die Aufräumarbeiten sind in vollem Gang. Noch ist auch Spino evakuiert. Es ist noch nicht klar, wann es wieder betreten werden kann oder ob die Häuser je wieder bewohnbar sein werden. Aktuelle Infos veröffentlicht die Gemeinde Bregaglia unter http://www.comunedibregaglia.ch/info-bondo.
      Dank Dir für Dein Interesse! herzlich, Veronika

    • Elena

      Frau Gygax-Muggli: in Spino sind alle Häuser evakuiert, fast alle wurden beschädigt (Keller, Erdgeschoss) und es fehlen vor allem Fliesswasser und Strom. Sie sind zur Zeit nicht bewohnbar.
      Schönes Beitrag. Das Bergell ist keine heile Welt aber wer offene Augen hat, diese „Kleinigkeiten“ schätzt und sich gut anpassen kann, wird das Bergell als idealer Ort empfinden. Grosse Vorteile: Lebensqualität, schöne Landschaften, schöne Dörfer, Lage (zwischen Engadin und Italien), Authentizität, Kultur, allgemein nette Leute, und und und…aber manchmal…eher „too slow“,
      das heisst: Entvölkerung, wenige Arbeitsplätze, viele Grenzgänger, viele Zweitwohnungen, wenige Infrastrukturen, tiefe Temperaturen und leere Dörfer im Winter, z.T. keine Sonne, z.T. hohe Preisen (Gebäude sind z.B. nach der Grenze oder im Calancatal viel günstiger und zugänglicher). Natürlich werden auch dort die Folgen der Globalisierung stark bemerkt, die jüngere Generationen interessieren sich nicht unbedingt für die Obsternte. Die kleine Dorfladen verkaufen viele Spezialitäten aber auch die Gemüse aus Spanien, Poulet aus Brasilien, Müesli aus Belgien, Pasta aus Amerika…Sonst könnten sie mit den Preisen nicht konkurrenzfähig sein. Aber mittlerweile hat man immer mehr Lust auf Lokalprodukte und diese Lust wird auch dort immer mehr befriedigt, nicht unbedingt aus finanziellen Gründen (der Aufwand ist häufig höher als den Ertrag). Allgemein würde ich sagen: das Bergell ist nicht nur eine Reise wert, einige könnten auch mehr als einen Grund finden dort zu wohnen. Wie gesagt, keine heile Welt, die richtige Einstellung ist sehr wichtig, wenn man sich dort integrieren, wohl befinden und das Beste daraus machen möchte!

© 2024 Bergell_Blog

Theme von Anders NorénHoch ↑