Es ist still geworden um Bondo. Das hat einerseits mit der medialen Berichterstattung zu tun. Weder in den Zeitungen noch im Fernsehen erscheinen mehr als nur Notizen. Und diese haben meist mit sympathischen Spendenaktionen zu tun: So weiss die Luzerner Zeitung, dass der Zuger Regierungsrat grosszügig 50’000 Franken für Bondo bewilligt hat. Die Aargauer Zeitung berichtete, dass eine Brugger Coiffeuse für Bondo gesammelt hat. Dieser nachhaltige Zuspruch und die vielen kleinen Aktionen haben die Gemeinde Bergell extrem gefreut; sie finanzieren viele wichtige Projekte und Reparaturarbeiten. Aus dem Bergell selbst aber haben Journalisten kaum berichtet.

Die Stille hat andererseits auch mit der Saison zu tun: Im Winter teilt sich das Bergell in Maloja, wo ausgiebig Wintersport betrieben wird und Hochsaison ist, und die Dörfer im Tal, die teils länger im Winterschatten liegen und vom Tourismus kaum berührt werden. Man ist unter sich und geniesst die Ruhe. Auch die Ruhe vor dem Berg – mit den tiefen Temperaturen kam der Frost, der den Piz Cengalo offenbar wieder gut zusammenhält. Es ist aber auch sehr viel Schnee gefallen. Was das für eventuelle neue Murgänge im Frühjahr bedeutet, weiss man noch nicht. Der Berg und das Bergsturzmaterial, das nun im Bondascatal liegt, bleiben unberechenbar.

Blick von Spino auf die Kantonsstrasse, darunter das Auffangbecken, 28.3.2018

Einst die Verbindung zwischen Bondo und Promontogno, heute eine Sackgasse, 28.3.2018

Zwischen den Dörfern von Bondo, Promotogno und Spino aber hat die Gemeinde Riesiges geleistet. Das Auffangbecken wurde komplett ausgehoben und mit dem Material des Bergsturzes erweitert und im Niveau angehoben, so dass für weitere Murgänge nun mehr Raum zur Verfügung steht. Die grosse Kantonsstrasse wurde renoviert und ist wieder vollständig befahrbar. Die alte Strasse wurde noch besser befestigt und kann weiterhin als Ausweichstrecke funktionieren. Wasser- und Stromleitungen wurden neu verlegt. Die Frühwarnsysteme für Murgänge sind wieder installiert. Eine Fussgängerbrücke zwischen Bondo und Promotogno über die Bondasca-Schlucht ist in Planung. Gefahrenzonen wurden immer wieder neu evaluiert, letztlich stehen hier nur wenige Häuser, die aufgegeben werden mussten. Einige andere Gebäude – so beispielsweise in Spino – aber sind so stark beschädigt, dass sie nicht mehr bewohnbar sind und abgerissen werden sollen.

Das sind einige der grossen Pläne, die die Gemeinde in vielen Sitzungen besprochen und umgesetzt hat. Aber auch einzelne Familien haben riesige Berge zu bewältigen. Während im Herbst noch viele Helfer und auch das Militär vor Ort waren, provisorische Brücken & Strassen anlegten, Häuser und Infrastruktur ausgruben, sind Betroffene nun eher auf sich gestellt. Keller müssen ausgeräumt, Abfall entsorgt und Wohnungen geputzt werden. Dabei überrascht mich immer wieder der Mut und der Optimismus.

Brauchbares, sorgsam gereinigt, Spino 28.3.2018

Nicht mehr zu gebrauchen, Reste in Promontogno Sottoponte, 28.3.2018

Niemand gibt auf oder will aus dem Tal wegziehen. Die Natur sei eben so; wenn der Berg kommt, dann kommt er. Warum das passiert ist? Man weiss es nicht. Vielleicht wird man es eines Tages wissen. Viele haben grosse finanzielle Einbussen zu tragen gehabt, die vom Spendenfonds nicht ausgeglichen werden. Trotzdem bleibt man zuversichtlich. Und ist noch ein wenig mehr zusammengerückt. Jeder weiss, welche Familie es besonders getroffen hat und wer welche Schwierigkeiten zu bewältigen hat. Aber man trifft sich in der Beiz, in der Schule oder beim Negozio und spricht darüber. Alle, die nicht betroffen waren, haben geholfen und gespendet. Im Herbst ist das Kastanienfest in Bondo ausgefallen und im Sommer der tolle Flohmarkt in Castasegna. Aber jetzt blickt man optimistisch in die Zukunft und will auch wieder feiern. Für Ostern ist ein Theaterstück zum Thema geplant, «Uniti ce la faremo – gemeinsam schaffen wirs», von Einheimischen konzipiert und gespielt.

Jetzt aber steht die neue Saison bevor. Werden die Gäste auch zuversichtlich sein und anreisen? Und wie sieht es für sie aus?  Das Bergell ist sicher nicht mehr genau das gleiche Tal, der Bergsturz hat eindrücklich gezeigt, dass Berggebiete momentan relativ fragil sind. Gletscher schmelzen zunehmend, das Gelände oberhalb von 2500 Metern wird instabiler. Das Val Bondasca ist komplett gesperrt, auch die Hütten Sciora & Sasc Furä (letztere bietet unsinnigerweise Online-Reservationen an!) bleiben vorerst geschlossen. Die Gemeinde plant neue Wanderwege, es ist aber noch nicht klar, wann sie geöffnet werden können.

Haus mit Durchblick, Sottoponte, 28.3.2018

Ich denke jedoch, dass eine Reise ins Bergell derzeit sehr spannend ist, weil man sich genau mit diesen Tatsachen auseinander setzen kann: Die Berge nicht nur als Idyll wahrzunehmen, sondern als Region, die von der Klimaerwärmung ganz besonders betroffen ist. Viele tolle Wanderwege wird man gehen können, ohne sich der Problemzone auch nur zu nähern. Andere – wie etwa der Panoramico – bieten interessante Aussichten auf den Cengalo und auf Bondo. Manche Hotels und Pensionen liegen weit weg vom Bergsturz (in Maloja & Casaccia, Stampa & Vicosoprano), bei einigen führt die Anreise notgedrungen durch das ehemalige Katastrophengebiet (so etwa nach Soglio). Und wieder andere bieten einen exklusiven Ausblick direkt auf die riesigen Gesteinsmassen (wie etwa das Hotel Bregaglia in Promontogno).

Und gleichzeitig wird das Bergell in wenigen Wochen seine allerschönste Seite zeigen – die Wiesen & Bäume werden vielfältigst blühen und spriessen, während die Schneegipfel noch weiss in der Sonne schimmern. Auf den Piazze und Piazette werden die Cafés wieder ihre Stühle nach draussen stellen und es mischt sich unverwechselbar das Bündnerische mit der Italianità. Die Menschen werden mit noch mehr Zuversicht in die Zukunft blicken und jeden Sonnenstrahl geniessen. Und sich über jeden Gast freuen, der den Weg in diesen Winkel der Schweiz findet.

Schon immer ein Steinmeer: Ansicht von Bondo, ca. 1870, Wikimedia Commons.

Vom 13.–17.5.2018 bieten Dominik Siegrist und Daniel Arn gemeinsam mit der Stiftung Salecina Kulturwanderungen durch das Bergell und das Engadin an. Am 16. Mai wird der Weg dabei über Soglio führen und ich werde dort einen kleinen Bericht zum «Bergell & Bergsturz» halten. Mehr Infos im Veranstaltungskalender von Salecina.